Foto:G.Blaskystudio
por Marilyn Bobes
Klaus E. Lehmann
VON JESÚS LARA SOTELO: BERLIN AUS ZUR SELBSTERKENNTNIS
Ein kurzer Aufenthalt in Berlin reichte dazu aus, dass der kubanische Poet Jesús Lara Sotelo sich dazu veranlasst sah, auf seinem Mobiltelefon, eines seiner authentischsten und konzentriertesten Bücher zu verfassen.
Gedichte aus Berlin nennt sich, anders als man denken könnte, kein Reisebuch, in dem ein Besucher aus der Dritten Welt voller Staunen ein Universum entdeckt, in dem es keine “Wolkenkratzer wie in Manhattan” gibt – um es in den Worten des Dichters zu sagen – aber sehr wohl einen sehr unterschiedlichen Sinn für Zeit, der in den Texten dieses Büchleins notorische Kennzeichen von Allgegenwärtigkeit abbildet.
Mit dieser Gedichtsammlung gibt der Autor Zeugnis einer Selbsterkenntnis, die es ihm erlaubt, Beziehungen zu seinem Umfeld aufzunehmen, um sich mit der steten Überzeugung seiner eigenen Identität zu versichern, dass “wenn die Kunst ein Gegengift wäre, die Versteigerung der Ruinen keine lebenswichtige Sache sein würde”.
Aber es sind genau diese inneren Ruinen, die der Reisende in einer Stadt wahrnimmt, die ihm vor allem ein Gefühl der Einsamkeit und Zerstörung vermittelt, das mit einem besonderen poetischen Gespür in diesen “toten Vögeln, die ein Arbeiter aufsammelt und in eine Plastiktüte steckt” symbolisiert wird.
Vielleicht steckt also die einzige Lösung in jenen vorübergehenden Liebesgeschichten, in denen sich der Zusammenstoß zweier Kulturen als stärker und aufschlussreicher erweist.
“Ich umarme dich als ob ich ein Erlöser mit einem Flugticket wäre”, sagt er der Frau im Vorübergehen, die nicht glauben will, dass irgendwer im nächtlichen Berlin der Hilfe bedürfen könnte.
Der Verfasser ist immer auf der Suche nach Verständnis, fühlt sich jedoch in der fremden Stadt “geächtet und allein” als ob ihm die Welt etwas schuldete.
Vielleicht entstammt diese Schuld den Ahnen, derer Lara Sotelo auf eine subtile Art gedenkt, ohne sich dem Gehabe um eine “Negritude” anzuschließen, die zuweilen die Essenzialität der verlassenen Existenz ihrer gerechten, aber sich wiederholenden Forderungen entbehrt.
Lara Sotelo ist sich der Rasse bewusst, der er angehört, aber es ist vor allem seine – sagen wir – metaphysische, Kubanität [“Cubanía”], die ihn die Unterschiede erkennen lässt, wenn er zum Bespiel einer Ausländerin zu beschreiben versucht, was eine Guanábana* ist.
Vielleicht verleiht die Tatsache, diese Texte auf seinem Mobiltelefon geschrieben zu haben, ihnen diese beneidenswert zusammenfassende Gestaltungsweise von Selbsterkenntnis und Kontrolle.
Wir sollten bedenken, dass Lara genügend von der Welt kennen gelernt hat, um nicht der Versuchung zu unterliegen, die ihn umgebende Landschaft nur zu beschreiben, sondern sie in Verbindung mit seinem eigenen Ich mit kollektiven Anklängen zu vernetzen und uns auf diese Weise höchst eigene Erinnerungen zu bieten, bei denen “nicht jede Schlussfolgerung verständlich ist”.
Die gutturale Sprache in der eine Lektüre Nietzsches unverständlich wird, hindert ihn nicht daran, zum Wesentlichen zurückzukehren, um zu entdecken, dass der Philosoph – zuvor in bekannteren Sprachen gelesen – “sich selbst viele Dinge schuldig geblieben ist”.
Er weist außerdem die Diskussionen zurück, die die Kubaner außerhalb der Insel stets verfolgen und verteidigt sich mit diesem glänzenden Aphorismus: “Weil ich mich durchblättern lasse, bin ich noch lange kein geopolitisches Handbuch”.
“Die Geschichte, die Leere und die Seerosen” bewohnen die Ausdruckswelt eines Menschen, der sich dem “Albtraum ein glücklicher Schafbock zu sein” verweigert.
Denn es ist nicht die Betrachtung, sondern die Interpretation des Momentes, den er durchlebt, die Lara Sotelo an den höchsten Punkt einer Sprache versetzt, die vorgibt, “das Erlernte nicht zu kennen”, immer auf der Suche nach neuen und tiefergehenden, zumindest vorübergehenden Schlussfolgerungen.
Ich habe bereits auf andere Weise gesagt, dass die Technik ihn zu einer neuen Art der Verkürzung geführt hat, in der die Texte schärfer, klarer, schneller als in den zahlreichen vorherigen Gedichtbänden eines Dichters sind, der sich niemals wiederholt, obwohl er diesen erkennbaren Stil beibehält, der die gesamte universelle Geographie durchzieht.
Die zeitweilige Ungenauigkeit schützt die Gedichte vor einer flüchtigen Aktualität, die eine andere sein könnte als die Fallstricke, die der Verfasser mit Handwerkskunst und Konzentration zu umgehen vermocht hat.
In Berlin oder in Havanna zu sein bedeutet nicht mehr als die Verwirklichung jener Selbsterkenntnis, mittels derer der Dichter uns stets einen Einblick in seine vielfältigen und überraschenden Persönlichkeitsstrukturen vermittelt hat.
Es gilt darauf hinzuweisen, dass sich, abgesehen von der Erwähnung von Straßen, Kirchen und Örtlichkeiten dieser europäischen Hauptstadt der entwickelten Welt, hier keine touristischen Darstellungen für diejenigen finden lassen, die auf der Suche nach einer oberflächlichen Wiedererkennung sein mögen.
Gedichte aus Berlin ist das Ergebnis eines langen Reifeprozesses in den Worten eines Menschen, der sich mit etwas mehr als “einer Handvoll von Metaphern” auffällig, und dabei sehr auffällig gezeigt hat.
Metaphern, die aufgrund der Authentizität, mit der sie von einem Künstler erdacht worden sind, der nicht dabei inne hält, eine der solidesten Werksammlungen der zeitgenössischen kubanischen Poesie wieder und wieder zu bearbeiten und zu erneuern, um in das Bewusstsein eines jeden Lesers vorzudringen.
Marilyn Bobes
* Stachelanone – Anona muricata, sehr beliebt, um einen milchigen, sehr aromatischen Saft herzustellen